Vier Piratensender in Marburg

ID: 413007
Vier Piratensender in Marburg 
23.Jan.17 13:43
486

Wolfgang Lill (D)
Redakteur
Beiträge: 1178
Anzahl Danke: 12
Wolfgang Lill

Beatles aus der Seifenkiste
Das hessische Marburg war vor 50 Jahren ein Piratennest - bis die Behörden einschritten
von Hans-Jürgen Krug, Marburg

Anfang September 1967 wurde in Teilen von Marburg im Westen Hessens das Fernsehprogramm immer wieder gestört. Es gab schwarze Streifen auf den Bildschirmen und deshalb wandten sich verärgerte Zuschauer an den Störungsdienst der Post. Derweil freuten sich Schüler in der Universitätsstadt über Radio City, einen unregelmäßig sendenden Piratensender, der viel Beatmusik brachte.

Radio City war ein Röhrensender, eine EL 84, und er konnte sieben bis acht Kilometer senden, sagt Heinz-Willi Bach, der damals Schüler an der Deutschen Blindenstudienanstalt (Blista) und ein intimer Kenner der Szene war. Dann war plötzlich Schluss. Der »Pirat« war weggezogen. Aber andere sendeten weiter.

Britische Piratensender wie Radio Caroline hatten das Schwarzsenden auch bei jungen Deutschen populär gemacht. Um das Jahr 1966 baute sich Heinz-Willi Bach seine eigene Sendeanlage und sendete als »Two Seven O« schwarz auf UKW. Ein Tonbandgerät, ein Mikrofon, einen Transistorsender und technische Kenntnisse, mehr brauchte er nicht. Es wurde live gesendet; die Reichweite betrug maximal 500 bis 1000 Meter. Der Sender war in den Internatszimmern der Blista gut zu empfangen - und die Reaktionen kamen prompt. »Es hatte schon was, wenn man sonntags zum Mittagessen kam und hörte: Ihr habt ein schönes Programm gemacht.«

»Wir haben gezielt Popmusik für Teenies gemacht«, sagt Bach: Beatles, Rolling Stones, Kinks - und wie sie alle hießen. Doch man beschränkte sich nicht auf Musik. Jingles der Piratensender wurden mitgeschnitten und in Marburg erneut gesendet, manchmal war auch ein Hörspiel im Programm.

In Marburg sendeten im Jahr 1967 bis zu vier Piratensender: Radio City, Voice of Germany, Two Seven O sowie AHF Canyon. Einige kamen aus der Blindenstudienanstalt, die »Piratensenderei«, so Bach, war zu einem »richtiggehenden Hobby« geworden. Doch dann standen am 21. Oktober plötzlich der Heimleiter »und eine ganze Reihe von Herren« im Internatszimmer von Heinz-Willi Bach. Die nächtlichen Gäste suchten eine Sendeanlage, versprachen, drohten, schüchterten ein - und bekamen dann einen Minisender in einer Seifenkiste ausgehändigt: Klein, aber mit einer gewissen Sendestärke. Sie suchten wohl einen anderen, stärkeren »Sender«, ist Bach heute überzeugt. »Wir waren eigentlich nur ein Kollateralschaden.«

Dann ging alles seinen institutionellen Gang, die Staatsanwaltschaft übernahm und ermittelte gegen Bach und zwei weitere Schüler. Die Relegation von der Schule lag in der Luft. Bach: »Uns ging ganz schön die Muffe.«

Anfang Dezember wurde die enttarnte Sendeanlage auf einer Pressekonferenz vorgeführt, fotografiert, gedruckt - und dann veränderte sich das Klima ziemlich rasch. »Willi (16), Werner (17) und Hans-Helmut (18)« schlug eine »Welle der Sympathie« entgegen. »Ich war nie so beliebt wie zu dieser Zeit«, sagt Bach heute. Der Sender in der Seifenkiste: Das war zwar illegal, aber es war auch bewundernswert. Das war Radiobegeisterung, das war Raffinesse. Selbst die Post lobte öffentlich die »technische Perfektion«.

Die Lokalpresse berichtete ausführlich über die drei Marburger Bastler, Radiofans und Senderchefs. Auch die überregionale Presse wurde aufmerksam: Die »Bild«-Zeitung (Auflage damals vier Millionen) titelte: »Blinde Jungen sind traurig: Hobby verboten«. Es gab einen regelrechten Medienhype. Nach einem Besuch beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt am Main kam auch eine Einladung nach Luxemburg. Anfang Dezember meldete die »Bild«-Zeitung: »Die drei blinden ›Funkpiraten‹ werden Schallplatten-Jockeys bei Radio Luxemburg.« Camillo Felgen (47), damals Starjockey des Privatsenders, habe »von dem Pech« der Drei gehört und sie eingeladen.

Kurz vor Weihnachten fuhr ein Redakteur die drei Jungen nach Luxemburg. Am 23. Dezember waren sie Gäste in »Die großen Acht«, einer Hitparade der meistverkauften Schallplatten und einer der damals populärsten RTL-Sendungen. Sie lernten Felgen und Frank Elstner persönlich kennen und wurden auch der Sendeleitung vorgestellt.

Im Februar 1968 fand die Hauptverhandlung in Marburg statt. Die drei Piraten wurden nach Jugendstrafrecht verurteilt: Jeder musste 80 Mark, gestückelt in Raten à acht Mark, an den Verein »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind« zahlen.

Wir kehren noch einmal in die Gegenwart zurück. Die Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista) in Marburg. Heute bildet diese Einrichtung sogar IT- Experten aus. Gesuchte Fachkräfte nicht nur auf dem Deutschen Markt.

Ob auch wieder  mal ein Piratensender in Marburg auftaucht ? Warten wir es ab.....

 

Vielen Dank für die Bereitstellung des Artikels an die Kollegen der Tageszeitung "Neues Deutschland " dort erschienen am 14.Januar 2017 auf Seite 16

Danke für das Foto bereitgestellt von Frau Dr. Imke Troltenier, Leitung Öffentlichkeitsarbeit blista.

Für diesen Post bedanken, weil hilfreich und/oder fachlich fundiert.

 2
Vier Piratensender in Marburg 
14.Feb.17 14:12
486 from 2689

Wolfgang Lill (D)
Redakteur
Beiträge: 1178
Anzahl Danke: 11
Wolfgang Lill

Quellenhinweis:

Vielen Dank an die Oberhessische Presse in Marburg, wo dieser Artikel am 4.Januar 2017 erschien.

Für diesen Post bedanken, weil hilfreich und/oder fachlich fundiert.