Aus dem Leben eines alten Radioempfängers

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Aus dem Leben eines alten Radioempfängers 
27.Apr.21 20:02
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Wolfgang Lill (D)
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Wolfgang Lill

Altes muß nicht immer wertlos sein. So hat Herr Hans- Jürgen Wodtke eine Geschichte aufgeschrieben, die es wert ist, einen Platz im Radiomuseum zu finden. Hier kommt sie :

H-J Wodtke schreibt eingangs:

Sicherlich hat das jeder schon mal erlebt, man ist sich ganz sicher: das brauche ich nie wieder, um sich dann später für diese Entscheidung zu geißeln. Mir ist es auch so gegangen und je mehr Jahre ins Land zogen, umso mehr habe ich meine damalige Entscheidung bereut. Was war geschehen ?

So lange ich denken konnte, befand sich im Wohnzimmer bei meinen Großeltern ein großer schwarzer Kasten. Es handelte sich um ein Radio der Firma Telefunken, wie man deutlich auf dem Bakelitgehäuse lesen konnte. BAKELIT ist ein Kunststoff, der um 1910 entwickelt wurde und dann in den 30iger Jahren seinen Siegeszug besonders in der Elektro- und Rundfunktechnik antrat.

Auch die Nazis hatten dies erkannt und ließen daraus das Gehäuse für den besonders preiswerten Volksempfänger produzieren.

Doch bei dem Radio  meiner Großeltern handelte es sich um ein recht hochwertiges Gerät, wie ich es später in Erfahrung bringen konnte. Sie hatten dieses unmittelbar vor Beginn des 2. Weltkrieges gekauft. Und so hieß es immer, das Radiogerät  haben wir von zu Hause mitgebracht. Das war eine Äußerung, mit der ich als Kind damals nicht allzu viel anfangen konnte, aber ich spürte , daß es sich für meine Großeltern ohne Zweifel um etwas ganz außergewöhnlich  Großes und Wertvolles handeln musste.Doch damals erschloß sich mir natürlich nicht, was das wohl hätte sein können.

Wie denn auch ?

Bevor der Fernseher bei uns im Hause Einzug hielt, saßen meine  Altvorderen so manchen Abend gemeinsam vor dem Radio, machten Handarbeit oder lasen die Zeitung während sie Musiksendungen, Hörspiele, aber vor allem die Nachrichten aus aller Welt verfolgten. Eine, rückwirkend betrachtete, heile  Welt, von der ich mich aber mit zunehmenden Alter und wachsendem Interesse für die aktuelle Musik zunehmend entfernte und es dadurch durchaus zu Interessenkonflikten beim Radio hören kam.

1961 zog das Fernsehen in unsere heimischen Räume ein, Damit verlor das altgediente  Telefunken-Radio zunehmend an Dominanz im Familienleben. Rein theoretisch hatte sich meine Situation dahingehend verbessert, dass ich nun ungestörter die eigenen Radiosendungen hören konnte. 

Doch inzwischen hatte sich der wesentlich störungsfreiere UKW- Rundfunk durchgesetzt  und viele der für mich interessanten Jugendsendungen liefen in dem Rundfunkband. Und eben dieses beherrschte unser Radioveteran natürlich nicht. Doch wozu ein neues und vor allem teures Radiogerät anschaffen, wenn das alte noch lief, so der Tenor meiner Großeltern.

Da keimte natürlich jedes Mal neue Hoffnung auf, wenn der Veteran kaputt ging. Doch der alte und erfahrene Elektromeister Richard Kurz aus Rathenow-West bekam das alte Ding immer wieder zum Laufen. Das war einfach unglaublich frustrierend für mich.So mußte ich noch einige Jahre warten, bis ich mir dann von meinem Jugendweihegeld das langersehnte eigene Kofferradio kaufen konnte. 

Nun war es mir vollkommen egal, was mit dem alten Telefunkenradio geschah. Es leistete wohl noch bis in die 1980iger Jahre seinen Dienst. Dann kam das endgültige Aus, weil niemand mehr das Gerät reparieren konnte oder wollte. Irgendwer brachte es dann auf den Speicher bis es in den frühen 90iger Jahren einer meiner Aufräumaktionen zum Opfer fiel und dann unter den Eindrücken der "neuen Zeit" aus meinen unmittelbaren Erinnerungen verschwand. 

Erst als ich mich vor rund zehn Jahren mit der Aufarbeitung der Regionalgeschichte zu beschäftigen begann, rückte auch die Fluchtgeschichte meiner Familie und damit auch das alte Telefunken-Radio wieder in mein Erinnerungsfeld. Je tiefer ich mich in diese Materie einarbeitete, umso mehr bekam ich eine Vorstellung vom geflügeltem Wort meiner Vorfahren: "das haben wir von zu Hause mitgebracht". 

So weiß ich heute, daß das Radio um die 800 Kilometer bei Regen, Kälte und Schnee, offensichtlich gut verpackt, auf dem Treckwagen aus dem westlichen Ostpreußen unbeschadet zurückgelegt hat.

Foto Archiv Wodtke           Weihnachten 1941 in Sommerau (Westpreußen)

Dabei war es nicht nur Wetterunbilden, sondern vielen anderen Gefahren wie Diebstahl, Beschuß durch Tiefflieger usw. ausgesetzt.

Als der Treck im März 1945 die Müritz erreichte, lebte von den vier Pferden, die den Wagen anfangs zogen, nur noch eins und auch das war krank. Doch meine Leute wollten nicht im Mecklenburgischem bleiben. Sie zog es weiter nach Böhne. So blieb für das weitere Fortkommen nur die Flucht mit der Bahn. Obwohl das Radiogerät mehr als 11 Kg wog, haben sie dieses nun noch unter den wesentlich komplizerteren Bedingungen nicht zurückgelassen. 

Endlich, im Böhner Ortsteil Möthlowsdorf angekommen, drohten dem soweit gereistem Rundfunkgerät mit Eintreffen der ersten Rotarmisten neue Gefahren. Denn Radios waren bei den Soldaten mit dem Roten Stern sehr begehrte Objekte. Die Begierde der Besatzer stieg im Laufe der nächsten Zeit so sehr, daß sie forderten, daß alle im Besitz der Deutschen befindlichen Rundfunkempfänger bei der sowjetischen Kommandantur in Rathenow abzugeben sind. Bei Zuwiderhandlungen drohten empfindliche Strafen.

Wie Zeitzeugen später berichteten, lagen vor dem Postgebäude in Rathenow dann mehrere Tage große Mengen solcher konfiszierter Rundfunkempfänger unter freiem Himmel auf einem großen Haufen und warteten auf den Abtransport ins Land des Roten Oktober.

Eine freiwillige Hergabe des geliebten Telefunkenradios an die Russen kam für meine Großmutter aber nicht in Frage. So hatte auch dieses Mal unser Radio dank dem Mut und Ideenreichtum der Besitzer sowie besonders günstiger Umstände unglaubliches Glück und das Telefunken-Radio mußte nicht den langen Weg in die Weiten Sibiriens antreten. 

Der Lebensweg des Gerätes endete wie oben beschrieben und ich begann, nachdem ich die Geschichte des schwarzen Kastens rekapituliert hatte, mich fürchterlich über mich selbst zu ärgern. Zugegeben, als ich die Entscheidung zur Entsorgung traf, wußte ich kaum etwas von der Odyssee, die dieses Erinnerungsstück zurückgelegt hatte. Dennoch hätte ich es gerne ungeschehen gemacht.

Das wußte auch meine Familie nur zu gut und machte mir eine riesige Freude, als Sie mir unlängst zu meinem 65. Geburtstag genau so einen alten Telefunkenempfänger schenkten. Wahnsinn ! Natürlich war es nicht unser Radio von damals . Oder vielleicht doch ?  Wer kann das schon wissen. Wie auch immer. In jedem Fall wird der Radioveteran für immer einen angemessenen Ehrenplatz bei mir erhalten.

 

Quellen; Hans- Jürgen Wodtke "Flucht aus Ostpreußen nach Böhne" . "Die letzten Tage im Krieg und die ersten Wochen im Frieden in der Region um Rathenow", Teil 1 von 2006

 

Morgen geht es weiter mit dieser spannenden Geschichte ! 

 

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Aus dem Leben eines alten Radioempfängers 
04.May.21 16:21
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Wolfgang Lill (D)
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Wolfgang Lill

Herr Wodtke hat mir geschrieben

Hallo Herr Lill,

heute lässt es das Wetter zu und ich habe den Arbeitsplatz im Garten mit einem Platz im Büro getauscht.
So will ich auch Ihrem Wunsch nach einem Bildchen nachkommen.

Bei dem in meinem Arm und im Beitrag von mir erwähnten Radio handelt es sich um einen Telefunken 944W mit MW und LW.

Foto ; Hans-Jürgen Wodtke, der Autor mit seinem Radio

Mein eigene „Radio-Karriere“ begann mit einem Detektorempfänger mit Germaniumdiode und Kopfhörern.
Der Bauplan entstammte  dem Pionierkalender von 1964 oder 1963. Es folgten leistungsfähigere Eigenbaugeräte mit Ge-Transistoren und Lautsprecher.

1966 kaufte ich mir von meinem selbst erarbeiteten und zur Jugendweihe erhaltenen Geld einen industriell vorgefertigten Bausatz für einem 2-Kreis-MW-Empfänger. Leider weiß ich nicht mehr den Markennamen, noch den Hersteller. Der Bausatz des Kofferempfängers einschließlich dekorativem Holzgehäuse kostete damals um die 200 DDR-Mark. Das volltransistorisierte Gerät war besonders im oberen Frequenzbereich der MW sehr leistungsfähig. So war fast ganzjährig der Empfang des saarländischen Rundfunks und des deutschsprachigen Dienstes von Radio Luxemburg möglich. Damals zwei sehr wichtige Sender in Sachen Beatmusik.

Mein erstes UKW-Kofferradio konnte ich gegen 1967 aus zweiter Hand erwerben. Es handelte sich dabei um ein Gerät vom Typ „Stern 64 Luxus“.
Foto von Rainer Reiche im Radiomuseum.org

Dieses für die damalige Zeit durch seine zwei Antennen für Aufsehen sorgende Wunder besitze ich noch heute. Obwohl inzwischen nicht mehr funktionsfähig und etwas runtergekommen kann ich mich dennoch für keine endgültige Entsorgung entschließen.

 

Für diesen Post bedanken, weil hilfreich und/oder fachlich fundiert.