Frühe digitale Bausteine der Firma VALVO

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Frühe digitale Bausteine der Firma VALVO 
02.Jul.19 10:46
1898
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Harald Giese (D)
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Harald Giese

 

1     Der digitale Baustein PS1

Vor einiger Zeit fiel mir wieder einmal ein grüner Klotz in die Hände, ungefähr so groß wie eine Streichholzschachtel, mit 10 Drahtanschlüssen und dem Aufdruck "PS1" aber ohne Hersteller-Angabe.

 

 

 

Er schmorte schon seit der Zeit unbeachtet in meinem Bastelfundus, als ich noch im Qualitätslabor der VALVO in Hamburg-Lokstedt tätig war (1970 - 1972) und das rätselhafte Ding aus dem Schrottcontainer gerettet hatte. Irgendwann packte mich die Neugier und ich fing an, in alten VALVO Taschenbüchern zu suchen. Ab dem Jahrgang 1962 (Info von D. Rudolph) findet man rudimentäre Informationen:


Nun wollte ich natürlich genauer wissen, was es mit diesen Bausteinen auf sich hat und erwarb im antiquarischen Buchhandel ein Büchlein, von dem ich mir Erleuchtung erhoffte: "Digitale Bausteine, Datenblätter aus dem VALVO Handbuch Bausteine 1963".

Ich wurde nicht enttäuscht, denn bei dessen Lektüre lernte ich, dass es sich bei dem grünen Klotz um einen Impulsformer (PS1 = Pulse Shaper) handelte, bestehend aus 3 Germanium-Transistoren, 8 Widerständen und 2 Kondensatoren, die gemeinsam einen Schmitt - Trigger und eine Umkehrstufe bildeten.

So sah die in diesem Handbuch aufgeführte technische Spezifikation des PS1 aus:

 

 

Wie sich zeigte, war der PS1 nicht der einzige damals von VALVO angebotene Digitale Baustein. Es gab ein ganzes Spekrum von Schaltkreisen in diesem Gehäuse - vom einfachen Und-Gatter bis zum Flip-Flop.

Hier einige Seiten aus dem betreffenden  VALVO Handbuch von 1963 auf denen der Einsatzbereich dieser Bausteine erklärt und die Produktpalette vorgestellt wird: .

 

2     Die VALVO Produktpalette "Digitale Bausteine 1963"

 

 

Hier noch einmal das im Handbuch gezeigte schematische Schnittbild:

 

Es wird zwar nicht gesagt, um welchen Baustein es sich handelt, das ist hier aber auch belanglos.  Man erkennt keramische Kondensatoren, Widerstände und 2 Transistoren, offensichtlich frühe Germanium - Typen. Die Anfang der sechziger Jahre im VALVO - Taschenbuch aufgeführten Ge - Transistoren waren die folgenden:

 

Welche Transistoren in den Digitalen Bausteinen verwendet wurden, wird wohl weiterhin im Dunkeln bleiben.

 

Um einen ungefähren Eindruck davon zu vermitteln, wie die interne Schaltung der anderen Bausteine aussah, habe ich hier willkürlich 3 Beispiele herausgegriffen.

2.1     Gatter 2x3P1

 

Der Gatter-Baustein enthielt also lediglich 2 Widerstände und 6 Dioden zur Entkopplung der Eingänge.

2.2     Flip-Flop FF1

 

Wie man sieht, wurden beim Flip-Flop schon ein paar mehr Bauteile in dem Standardgehäuse untergebracht.

2.3     Leistungsverstärker PA1

 

Mit dieser aus einer  Kombination von NPN-Vorstufen- und PNP- Leistungstransistor aufgebauten Darlington -Schaltung konnten höhere - insbesondere auch induktive Lasten getrieben werden. Die Freilaufdiode D1 dient zum Schutz des Leistungstransistors vor der induktiven Rückschlagspitze beim Schalten induktiver Lasten.


Gemeinsam sind allen Bausteinen die relativ niedrigen Betriebsspannungen von ± 6V (frühe Ge-Transistoren!) und die niedrige max. Impulsfolgefrequenz von lediglich 100 KHz. Die einzige Ausnahme bildet der Leistungsverstärker PA1 dessen Ausgangsstufe mit 60V betrieben werden kann und einen Ausgangsstrom von max. 600mA liefern kann. Die max. Impulsfolgefrequenz liegt dafür nur bei 100 Hz.

 

3     Die VALVO Bausteine im Vergleich zum Stand der Technik

Zunächst einmal ist man erstaunt, dass solche mit Germanium Transistoren bestückten Bausteine in relativ großen Gehäusen 1962 auf dem Markt erschienen. Immerhin hatte TEXAS INSTRUMENTS schon in den fünfziger Jahren ein Micro NOR-Gatter in integrierter (also auf einem Chip) RTL-Technik (Widerstand-Transistor-Logik)  - den berühmten MC717 - auf den Markt gebracht. Das legendäre 4-fach NAND-Gatter SN7400 erblickte 1966 das Licht der Welt und - nur zum Vergleich - die ersten OP-amps µA702 und µA709 erschienen 1964 bzw. 1965 auf dem Markt.

 

Was aber noch viel erstaunlicher ist, ist die Tatsache, dass man diese Bausteine noch Anfang der siebziger Jahre in den VALVO Taschenbüchern findet - 10 Jahre nach ihrem ersten Auftauchen! Inzwischen wurde das Lieferprogramm z.B. um  die Baureihe B10 in ähnlichem Gehäuse aber mit 19 Anschlüssen und komplexerem Inhalt erweitert, aber die alte B8 900 00 Baureihe existierte immer noch. 

Hier ein Auszug aus dem VALVO Taschenbuch 1972:

 

Dieser scheinbare Anachronismus erklärt sich folgendermaßen: Die hier diskutierten Bausteine waren, wie im Handbuch 1963 hervorgehoben, für den kommerziellen Einsatz gedacht.

In diesem kommerziellen Industriesektor gelten ungleich höhere Ansprüche an die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeitskontinuität eines Produktes als in der Unterhaltungselektronik. Beschloß z.B. ein Unternehmen im Jahr 1962 seine Fertigungsstraße zu automatisieren und dabei die Digitalen Bausteine der Fa. VALVO einzusetzen, so musste VALVO Lieferkontinuität für die nächsten 10 Jahre garantieren - ganz unabhängig davon, ob man in der Zwischenzeit viel zeitgemäßere digitale Schaltungen zur Verfügung hatte. Die dominanten Aspekte waren immer die Ausfallstatistik und die Kontinuität der Produktion und nicht ein höherer Integrationsgrad. Es ging also nicht darum, eine kleine, leichte und elegante Steuerung auf kleinstem Raum unterzubringen - immerhin wollte man die Steuerelektronik nicht mit einem Satelliten auf eine Mondumlaufbahn schießen.

Platz hatte man genug und Gewicht spielte keine Rolle. Das Problem bestand eher darin, dass in vielen Industrieanlagen, in denen diese neuen Steuereinheiten eingesetzt werden sollten, extrem hohe elektromagnetische Störpegel auftraten. Während die EMV (ElektroMagnetische Verträglichkeit) der alten mit Ge-Transistoren bestückten Digitalen Bausteine aufgrund ihrer niedrigen Grenzfrequenzen noch einen relativ problemlosen Einsatz in solchen Industriebereichen erlaubte, ließ die Störstrahlungsimmunität bei moderneren Bausteinen, wie z.B. den ICs der TTL Technik deutlich zu wünschen übrig, und es stellten sich in der Anfangszeit viel häufiger Probleme ein, als mit den alten Bausteinen.

Erst nachdem die modernen Integrierten Schaltungen schon lange auf dem Markt waren und durch Einführung der LSL - ICs (Langsame Störsichere Logik) die EMV von Anlagensteuerungen entscheidend verbessert werden konnte, stellten auch große Industriebetriebe die Steuerung ihrer Fertigungsstraßen auf modernere Komponenten um - aber bis dahin verkaufte VALVO seine "Digitalen Bausteine" auf der Basis von Ge-Transistoren.


Um die Problematik an einem praktischen Beispiel zu verdeutlichen, möchte ich einen interessanten Störfall erwähnen, der die Fertigungsstraße eines großen Industrieunternehmens nach Modernisierung ihrer Prozesssteuerung sporadisch stilllegte und enorme Produktions - Ausfallkosten nach sich zog - ein Szenario mit dem man zuvor - also bevor die Elektronik modernisiert wurde - nie konfrontiert worden war

Was war passiert?

Das mit der Installation der neuen Steuerung beauftragte Unternehmen ahnte angesichts des extrem hohen elektromagnetischen Störpegels schon Unheil und empfahl den Einbau der Steuerung in einen Stahlschrank (Messgeräteschrank) mit HF-dichter Schirmung. Das ging anfangs auch gut, bis sich die Steuerungsausfälle auf mysteriöse Weise häuften.

Der Grund:

Während die Mitarbeiter in der Anfangszeit nach der Installation der neuen Steuerung akribisch darauf achteten, die HF-dichte Stahltür nach jeder Änderung der Betriebsparameter vollständig zu schließen (was aufgrund der sehr stramm sitzenden Kontaktfedern der HF-Dichtung in der Tür wirklich mühselig war) schlich sich nach einiger Zeit eine gewisse Entspanntheit ein. Die Tür wurde häufig nur angelehnt oder sogar ganz offen stehen gelassen.

Eines Tages hatte der Leiter des EMV-Messtrupps die Erleuchtung: Hatte das Personal die Tür vollkommen geschlossen, so gab es keine Steuerungsausfälle. Hatten die Mitarbeiter die Tür gleich ganz offen gelassen, gab es ebenfalls keine Ausfälle.

Der fatale Fall war die angelehnte Tür, die zwischen dem Gehäuse des Stahlschranks und der HF-Dichtung einen kleinen Spalt liess. Dieser Spalt agierte als so-genannte "Schlitz - Antenne".

Eine "Schltz - Antenne" stellt sozusagen die materielle Inversion einer normalen Dipol-Antenne dar; d.h. dort wo beim Dipol Metall ist, ist bei der Schlitz-Antenne Dielektrikum (Luft) und umgekehrt. Nimmt man also eine Metallplatte und sägt in diese einen ca. 1,5 m langen Schlitz, und kontaktiert die Metallplatte beidseitig in der Mitte des Schlitzes mit einem Antennenkabel (Bandleitung) so erhält man einen  λ/2 Dipol für das UKW-Rundfunkband. Hier der schematische Aufbau einer Schlitzantenne im Vergleich zu einem normalen Dipol aus "J.D. Kraus, Antennas, McGraw-Hill, 1950" .

Für diejengen, die etwas mehr über die wenig bekannten "Schlitz-Antennen" und deren breiten- und längenabhängige Fußpunkt-Impedanzen wissen möchten, hier noch eine weitere Abbildung aus dem oben genannten Buch:

Die aus der angelehnt gelassenen Tür geformte "Schlitz - Antenne" wurde also von der in der Fabrikhalle vagabundierenden HF zum Schwingen angeregt und strahlte ihrerseits HF in die hinter ihr im Schrankinnern liegende modernisierte Steuerlektronik. Durch die fokussierende Wirkung der "Schlitz - Antenne" (Richtkeulen) ergab sich im Schrankinnern ein höherer Störpegel als bei offen gelassener Tür, was zu den beobachteten sporadischen Ausfällen der Elektronik führte.

Die Unternehmensleitung ärgerte sich noch lange über den fatalen Entschluss, die Steuerelektronik modernisieren zu lassen.


Man sieht, dass die aus heutiger Sicht recht grobschlächtig wirkenden "Digitalen Bausteine" aus dem Jahr 1962 unbestreitbare Vorteile hatten und dass es gute Gründe gab, sie noch bis Anfang der siebziger Jahre in Prozesssteuerungen bestimmter Fertigungsanlagen mit HF-mäßig "unangenehmer" Umgebung einzusetzen.


Mein Dank geht an Dietmar Rudolph für die Bilder zur Slot-Antenne.

Für diesen Post bedanken, weil hilfreich und/oder fachlich fundiert.