Westradio trotz Mauer

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Westradio trotz Mauer 
08.May.21 15:22
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Wolfgang Lill (D)
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Wolfgang Lill

so war das damals in der DDR, unser Gastautor Hans-Jürgen  Wodtke hat seine Erinnerungen für das Radiomuseum.org bereitgestellt:

Musik, Infos und Lebensgefühl aus dem Westradio 

Radiowellen ließen sich durch keine Verbote und Mauern stoppen

Das Radio war für die meisten jungen Leute in den 1960er Jahren im Osten die wichtigste Informationsquelle, wenn es um aktuelle Musik, Mode und überhaupt um modernes Lebensgefühl ging. Und diese Informationen lieferte, trotz Mauer und Schießbefehl, das Westradio frei Haus. Waren es Anfang der 1960er Jahre überwiegend die englischsprachigen amerikanischen und englischen Soldatensender die speziell auf die Jugendbedürfnisse abgestimmte Musik spielten. So produzierten ab Mitte der 1960er die meisten westdeutschen Radiostationen jetzt auch ausschließlich Sendungen für die beatverrückte Jugend. Glücklich waren da die Jugendlichen, die ein eigenes Kofferradio besaßen.

Mit der eigenen Heule an der Ecke

Oft wurde das zur Jugendweihe oder Konfirmation erhaltene Geld zum Kauf eines eigenen Kofferradios verwendet. Für die glücklichen Besitzer einer eigenen „Heule“ gehörte es damals zum Trend und Leidwesen der Erwachsenen, diese auch in der Öffentlichkeit in Funktion zu präsentieren. Mit zusätzlich montierten Autoantennen und Zusatzbatterien, die mit Weck-Gummis am Radiogehäuse befestigt wurden, buhlten dann die stolzen Radiobesitzer an den Treffpunkten der Klicke um das geschätzte Ansehen der Anwesenden.

Besonders begehrt bei den jungen Radiobesitzern waren, wegen der größeren Sendervielfalt und dem störungsfreien Empfang, UKW-taugliche Geräte. Doch waren diese in den frühen 1960er Jahren noch sehr rar und landeten überwiegend im Export. Nur langsam verbesserte sich das Angebot an mobilen UKW-Geräten.

Ein Radiohörer erinnert sich

An die in den späteren 1960er Jahren praktizierte Jugendradiokultur erinnert sich der 1953 in Ost-Berlin geborene Lutz Baumann, stellvertretend für alle Beatmusikhörer von damals, wie folgt: „Die Programme der Westsender wurden [im] Berlin[er-Raum] über Mittelwelle und Ultrakurzwelle ausgestrahlt. […] UKW machte aber erst nach 16:00 Uhr Sinn, da vorher keine Programme von den beiden deutschen Sendern RIAS

oder SFB mit Beatmusik gesendet wurden. Wollte man schon ab 15:00 Uhr Beat hören, so musste man sich mit dem 49- oder 41 Meter-Band der Kurzwelle zufrieden geben. [Doch] ‘Radio Luxemburg‘ auf Kurzwelle kam nicht in Frage, um diese Zeit spielten sie nur deutsche Schlager. Hier war es der Sender ‘Radio Freies Europa‘, eine amerikanische Station, die ihr Geld von der CIA bekam und für die Bewohner des Ostblocks in ihrer Landessprache sendete. […] Der Sender stand in München, konnte aber in Ost-Berlin einigermaßen, wenn auch mit leichten Schwankungen, gehört werden. […] Die Musik wurde nur kurz vor den Nachrichten zu jeder vollen Stunde unterbrochen. Dieses Programm wurde jeden Tag ausgestrahlt und dauerte bis 19:00 Uhr. Es gab [jedoch] eine Ausnahme: Der Deutschlandfunk hatte von 14:00 bis 15:00 Uhr eine Sendung, die nannte sich ‘Beat nach der Schule‘. Deutschlandfunk sendete sein Programm auf Mittelwelle und war in Berlin nur mit ziemlichem Rauschen zu empfangen. Das störte mich nicht, Hauptsache es war Beat. […]

Das eigene Kofferradio als Wegöffner zu einer neuen Welt


Ab Augst 1969 war ich stolzer Besitzer eines Transistor-Kofferradios der Marke ‘Sonneberg 6000‘ mit UKW und Teleskopantenne zum Kurzwellenempfang. Die 480 Ostmark, die das Gerät kosteten, waren zu dieser Zeit fast ein Monatsverdienst eines ungelernten Arbeiters. Dafür hatte ich in den großen Schulferien jeweils drei Wochen […] gearbeitet.

Mit dem Besitz des Radios konnte ich [nun] in die Küche ausweichen, wenn ich Musik hören wollte. Das war vorher nicht möglich und da saß ich abends, montags und dienstags, mit dem Ohr am Lautsprecher des alten UKW-Röhrenradios, wenn ich von der BBC um 21:00 Uhr ‘Platten a la carte‘ oder ‘Eine kleine Beatmusik‘ hörte, während meine Eltern im Sessel vor laufendem Fernseher schliefen. Diese beiden Sendungen kamen via UKW BBC Berlin zu den […] Hörern und waren extra Wunschsendungen für die Beat-Fans im Osten. […] Die Hörer mussten sich schon einiges einfallen lassen, damit ihre Musikwünsche überhaupt erst mal zu den Sendern kamen. Es wurden zwar immer Deckadressen angegeben, aber wie sich nach dem Mauerfall herausstellte, landete ein großer Teil der Post direkt bei der Stasi in der Abteilung M, die für die Postkontrolle zuständig war. […]“

Unsere Musikwünsche im Westradio

Ab und an erreichten Musikwünsche aus dem Osten tatsächlich die Sender. So erging es dem in Lindow (Mark) aufgewachsenen Hans-Jürgen Ebert. Er sandte seinen Musikwunsch „Yummy Yummy Yummy“ vom Ohio Express an die Westberliner Deckadresse der BBC-London und bekam tatsächlich seinen Wunschtitel gespielt. „Leider, leider habe ich das nicht selbst gehört“, so Ebert, „doch haben Freunde davon später freudestrahlend erzählt und mir gratuliert.“
Da hatte ich mit meinem ebenfalls bei der BBC eingereichten Musikwunsch mehr Glück und das auch noch im doppelten Sinne. Zum einen hörte ich, wie mein Wunschtitel über den Äther gesandt und auch noch mein Begleitbrief vorgelesen wurde, zum anderen hat damals meine Bärbel, ohne dass wir uns vorher kannten, das erste Mal von mir radioakustisch Notiz genommen. Einige Zeit später waren wir dann beide ein Paar. Es lebe die Beatmusik und danke an BBC London!

„S-F-Beat“ und „Treffpunkt“ lieferte den Blick hinter die Berliner Mauer


Lutz Baumann schreibt in seinen Erinnerungen zum Westradiohören weiter: „Ende der sechziger Jahre entschlossen sich die Chefs vom Sender Freies Berlin (SFB), ein tägliches einstündiges Jugendprogramm einzurichten, das dann ab 3.3.1967 unter dem Slogan [‘Hey, Hey, Hey -] S-F-Beat‘ auf SFB 2 auf UKW auf Sendung ging. Von 18:05 Uhr bis 19:00 Uhr hörte ich, wenn auch manchmal unter Streit mit meinem Vater, S-F-Beat. Höhepunkt war dann immer zum Schluss der Sendung der ‘Hit des Tages‘, worüber die Hörer im Westen […] telefonisch abstimmten. Dieses Jugendmagazin war bei uns äußerst beliebt. Die Ansager trafen genau den richtigen Ton der jugendlichen Hörer, es wurde nur Beatmusik gespielt, man erfuhr auch etwas zu politischen und kulturellen Ereignissen. Zu dieser Zeit war ja auf den Straßen Westberlins immer was los, der Vietnamkrieg tobte, die APO beherrschte mit ihren Aktionen den Ku‘damm, darüber berichten Reporter und auch die Gegenmaßnamen des Staates wurden kritisch kommentiert. […] Wir im Osten lehnten zwar das sozialistische System sowjetisch-ulbricht‘scher Prägung ab, man wusste aber eben auch durch die Westmedien von den Schwächen der bürgerlichen Demokratie. […] Interessant für uns im Osten waren die Veranstaltungshinweise beim ‘S-F-Beat‘: Diskotheken, Kneipenkonzerte etc. Man konnte sich das [damals] einfach nicht vorstellen, so was gab es in dieser Form einfach nicht [im Osten]. Eine Sendung darf nicht vergessen werden, das war der ‘RIAS Treffpunkt‘, der jeden Sonnabend ab 16:40 Uhr und dann später ab 16:00 Uhr bis 18:00 Uhr ein spezielles Jugend-Programm auf RIAS 2 ausstrahlte. Hier wurde nur Wunschmusik gesendet und dies wieder speziell für die Hörer hinter der Mauer. […]

Heiße Beatmusik für Kurzwellen-Junkies

Wer kein Interesse an einer Magazinsendung hatte, der hörte […] ab 19:00 Uhr beim niederländisch-sprachigen Programm von Radio Luxemburg im 49-Meter- Band auf Kurzwelle unter seinem Stardiskjockey Peter Koelewijn die neuesten internationalen Hits. Nach 20:00 Uhr war dann Radio Luxemburg auf Englisch der einzige Sender, der Beatmusik die ganze Nacht sendete. Später, ab 21:00 Uhr, war es dann möglich, Luxemburg auch auf Mittelwelle zu empfangen.

Zwei Stationen habe ich noch vergessen: Es handelte sich um sogenannte Piraten-Sender, die von zwei Schiffen, die außerhalb der Drei-Meilen-Zone lagen und so nicht kontrolliert werden konnten, Beat in den Äther schickten: Radio Caroline und Radio Noordzee Internationaal. Die waren nur ganz spät abends zu empfangen und das in ziemlich schlechter Qualität. Sie strahlten rund um die Uhr Werbung und Beatmusik aus. […]“

Berlin war nicht immer der „Nabel der Welt“


Für Lutz Baumann in Ost-Berlin war der Deutsche Soldatensender seiner Zeit kaum zu empfangen. Der Sender erfreute sich außerhalb Berlins, aber besonders bei den jungen Hörern, sehr großer Beliebtheit. (*1) Genauso war es mit der täglich von der Europawelle Saar ausgestrahlten und für die damalige Zeit extrem fortschrittlichen Popsendung „Hallo Twen“, mit dem begnadeten Moderator Manfred Sexauer.

Ab den späten 1960er wurde NDR2, so man den Sender auf UKW empfangen konnte, zu dem Unterhaltungssender für die Jugend und Junggebliebene. Und da waren die Hörer auf dem Lande klar im Vorteil, denn die schwach ankommenden Radiowellen wurden hier am wenigsten abgelenkt. Für einen guten Empfang in Stereo waren da schon leistungsfähige Antennen notwendig. Doch diese hielt der ostdeutsche Handel nur in äußerst beschränktem Umfang bereit. Warum auch? Die Bürger sollten das gut ausgebaute DDR-Rundfunknetz nutzen. Erstaunlicherweise gab es aber ausgezeichnete Bücher, die genau beschrieben wie man eine Hochleistungs-UKW-Antenne selbst baut. So nachgebaut stand einem Empfang des begehrten NDR2-Programms, zumindest hier bei uns auf dem Lande, nichts mehr im Wege.

Gern erinnere ich mich heute auch noch an das deutschsprachige Jugendprogramm von Radio Schweden. Jeden Samstag lief dort eine halbe Stunde lang ein tolles und informatives Programm mit viel internationaler Pop- und Wunschmusiken. Mit der Redaktion unterhielt ich von 1967 bis 1968 einen regen Briefkontakt, bis die Sicherheitsorgane der DDR mir das ausdrücklich untersagten. (*1) Übrigens gab es in der DDR nie ein Gesetz, das das Hören und Sehen von Westsendern untersagte, allerdings war die Einfuhr westlicher Druckerzeugnisse offiziell verboten und konnte strafrechtlich verfolgt werden.

Quellen:

  • Baumann, Lutz: Der Beat und die Westsender, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,

 

BU: Die „Heule im Anschlag“. Hans-Jürgen Ebert (um 1969) und sein geliebtes Kofferradio mit zusätzlich montierter extralanger Autoradioantenne. Quelle: Archiv Ebert    

Übrigens die Tanzwütigen auf dem Cover sind meine Frau und ich vor rund 50 Jahren.

 

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