Christbaumständer mit Antenne

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Christbaumständer mit Antenne 
01.Apr.20 17:06
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Georg Richter (D)
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Georg Richter

Aus dem 2015 im SingLiesel Verlag erschienen Buch "Die schönsten Steckenpferd-Geschichten aus früheren Tagen", in fünf Minuten erzählt von Günter Neidinger, die Illustrationen zeichnete Nikolai Neidinger. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des SingLiesel Verlags, Karlsruhe.
(ISBN 978-3-944360-53-9)

Christbaumständer mit Antenne

"Dass mir ja keiner was am Radio verdreht!", schärfte uns unser Vater immer wieder ein. Das Radio war sein Ein und Alles. Chzzzchkrrchzsch ... Wie rauschte es rätselhaft aus dem Kasten, wenn er neue Sender suchte, wie angestrengt horchte der Vater dabei, und wie sehr entspannte sich sein Gesicht, wenn er wieder einen neuen Sender gefunden halte, der dann klar zu verstehen war!

Unser Vater rauchte nicht, trank keinen Alkohol und gab auch sonst nur Geld aus, wenn es der Familie zugute kam. Das einzige Steckenpferd, das er sich gönnte, war sein Radio. Einen Fernseher hatten wir damais noch nicht. Wir lauschten am Sonntag um zwei dem Kinderfunk, hörten Musiksendungen an oder verfolgten ab und zu eine Sportreportage. Doch alles immer nur, wenn Papa dabei war.

Er kannte sich in allen Wellenbereichen aus, egal ob Kurz-, Lang-, Mittel- oder Ultrakurzwelle. Er wusste Bescheid. In einem speziellen Helt notierte er sich jeden Sender mit seiner genauen Frequenz. Er war sogar in Kontakt mit einem Verlag, der jedes Jahr eine neue Sendertabelle herausgab und auf Papas Kenntnisse zurückgriff.

In späteren Jahren, als die Technik immer weiter voranschritt, ließ sich unser Vater eine spezielle Antenne auf das Dach bauen, die er vom Wohnzimmer aus in alle Richtungen fernsteuern konnte. Doch in den ersten Jahren gab es bei uns nur eine Zimmerantenne. Und die funktionierte nicht immer einwandfrei. Sie gab nicht viel her, und es rauschte nur so im Wellensalat.

"Mach den Kasten aus!", hörten wir unsere Mutter dann aus der Küche rufen. Mama ging Papas Steckenpferd manchmal gehörig auf die Nerven. Ausgerechnet wenn die Kinder draußen waren und sie endlich mal ihre Ruhe hatte, musste ihr Mann am Kasten herumdrehen! So nannte sie den Radioapparat immer dann, wenn er ihr auf den Wecker ging.

Aber wenn es um sein Radio ging, war Papa ziemlich einfallsreich - und hartnäckig. Er sann auf Abhilfe. "Wenn die Sender klar zu empfangen sind, wird auch meine Frau zufrieden sein", überlegte er. Musik hörte Mama nämlich sehr gerne.

Eines Abends kam Papa mit einem Paket nach Hause. Mama glaubte, ihren Augen nicht zu trauen, als er die Teile einer Dachantenne auspackte und zusammenbaute.

"Was willst du denn damit?", fragte sie verwundert. "Den Radioempfang verbessern", erklärte der Vater. Wenn unsere Mutter geahnt hätte, was sie erwartete, hätte sie ihn seinen Plan bestimmt nicht ausführen lassen. So aber zog sie es vor, im Garten zu arbeiten. "Mach, was du denkst!", sagte sie leichtfertig und ging.

Als sie dann spater, nichts Böses ahnend, das Wohnzimmer betrat, traf sie fast der Schlag. Da stand doch mitten in der Stube die Dachantenne! Sie thronte auf einem Besenstiel im Christbaumständer und füllte den halben Raum aus. Freudestrahlend drehte Papa das Monstrum hin und her, bis die Musik ohne störende Nebengerausche aus dem Radio erklang.
"Ist das nicht herrlich?", rief er begeistert und pfiff mit der Melodie mit.

Mama sank in den Sessel. "Ich sage lieber nichts dazu," seufzte sie.
"Aber Mama, das ist doch toll!", versuchte Marie sie aufzumuntern. "Der Papa ist bestimmt ein ganz großer Erfinder!" Dieses Lob beflügelte Papa noch mehr: Ein schwungvoller Walzer ertönte im Programm, und er forderte Mama zum Tanzen auf! Da konnte sie nicht länger ärgerlich sein. Sie stand lachelnd auf, und wir Kinder staunten nicht schlecht, wie unsere Eltern in dem kleinen Wohnzimmer, das durch die Antenne ja noch enger geworden war, zwischen den Möbeln Walzerschritte machten und lachten!

Der Christbaumständer mit Antenne stand noch viele Monate lang im Wohnzimmer. Und als Weihnachten nahte, hatte unsere Mutter auch schon eine Idee: "Dann quartieren wir den Weihnachtsbaum ins Esszimmer um." „Da passt er sowieso besser hin", pflichtete Papa ihr bei.

 

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