elektroaku: "Babys" vom Fließband

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elektroaku: "Babys" vom Fließband 
27.Aug.09 15:10
4007

Uwe Ronneberger (D)
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Uwe Ronneberger

"Babys" vom Fließband

Besuch beim VEB (K) Goldpfeil Rundfunkgerätewerk


Verläßt man die Autobahn Berlin-Karl-Marx-Stadt-Plauen und biegt auf die Fernverkehrsstraße 95 in Richtung Leipzig ein, gelangt man bald in einen jener kleinen Industrieorte, die für diese Gegend unserer Republik typisch sind. Es ist Hartmannsdorf. Hier befindet sich einer unserer kleineren Rundfunkgerätebetriebe, den die meisten von uns wohl unter dem alten Firmennamen "VEB (K) Elektroakustik Hartmannsdorf" kennen.

Auf dem Weltmarkt ist das Werk nicht zuletzt durch die Herstellung elektronischer Orgeln bekannt, die ausschließlich in den Export gehen. Weiterhin fertigt das Werk den auch im Inland bekannten Großsuper  "Rossini" in Mono- und Stereoausführung und dies interessiert uns heute besonders die transistorisierten Rundfunkempfänger "Opal" (siehe "funkamateur", Nr. 3/1962) und "Spatzbaby". Spatzbaby ist ein Kofferempfänger, Opal ein Schnurloser Heimempfänger; der DDR-Prototyp einer Gerätegattung, die auf dem Weltmarkt zunehmend an Bedeutung gewinnt. Den meisten Amateuren


Frauen am Fließband 1963

"Die fleißigen Frauen, sie weben und flechten . . .", hieß es einst bei unseren Vorfahren.
Heute bestückt Oma (im Vordergrund) fleißig Leiterplatten für "Babys" mit funktechnischen
Bauelementen


ist die gedruckte Schaltungstechnik nichts Neues, doch kaum einer hatte schon einmal Gelegenheit, die industriemäßige Fertigung eines Gerätes in gedruckter Schaltung zu erleben.

Die beiden transistorisierten Empfänger Spatzbaby und Opal haben eine Grundschaltung - ein Erfolg der Standardisierung. Der Fertigungsablauf in aller Kürze: Kernstück dieser Geräte ist das beiden Empfängern gemeinsame Chassis, das sich allerdings vom herkömmlichen Metallchassis beachtlich unterscheidet- Es handelt sich um eine Hartpapierplatte, auf die die fertige Schaltung leitend aufgedruckt ist, mit sämtlichen Löchern zur Aufnahme der Bauelemente (Transistoren, Widerstände, Kondensatoren, Anschlußfahnen usw.).
Diese Leiterplatte wird "bestückt", d. h.die Bauelemente in die vorgesehenen Löcher gesteckt. Die Rückseite der Leiterplatte gleicht jetzt einem drei Tage unrasierten .. . Ernsthaft: Die Befestigungsdrähte der Bauelernente starren mit verschiedenen Längen aus der Platte.

Man könnte nun die Drähte einzeln mit dem Seitenschneider auf die richtige Länge kürzen. Die Hartmannsdorfer entwickelten und konstruierten eine spezielle Maschine, die alle Drähte in
Sekundenschnelle auf 3 mm Länge kürzt. Nun wird die Rückseite mit einem Spezialflußmittel eingerieben (ebenfalls eine "Eigenentwicklung"), mit einer Folie deckt man die nicht zu lötenden Teile ab, und dann kommt die bestückte Leiterplatte auf einen kleinen Wagen, der sie in die Tauchlötmaschine fährt. Drei Sekunden lang wird die Platte in flüssiges Zinn von etwa 230 °C getaucht, und dann sind alle Bauelemente in einem Arbeitsgang verlötet.

Der Rest ist schnell erzählt. Der Leiterplatte (jetzt müßte man wohl schon vom halbfertigen Gerät sprechen) wird der HF-Teil beigefügt, der Tastenschalter mit den Spulen und HF-Transistoren. Alle Empfänger werden durchgemessen und abgeglichen, eingebaut und nochmals kontrolliert, gestempelt und verpackt. Das Messen und der Abgleich erfolgen ebenfalls am Band, einige Rundfunkmechaniker sitzen dazu vor speziellen Meßgeräten. Abgleich und Messen gehen sehr schnell vor sich. Stellt sich bei den Kontrollmessungen heraus, daß "etwas nicht stimmt", auch das kommt natürlich vor, so sind für diese Fälle zwei Reparaturplätze gleich in das Fertigungsband eingebaut.

Für die Fertigung unentbehrliche bekannte Arbeitsgänge wie Spulenwickelei, Schlosserei usw. sollen der Verein-

Drahtschneidemaschine 1963


Mit einer eigens für diesen Zweck konstruierten Maschine werden die auf der Plattenunter-
seite hervorstehenden Anschlußenden einheitlich auf 3 mm Länge gekürzt. Wie der Bart des
Mechanikers zeigt, eignet sich diese Konstruktion noch nicht zum Rasieren


fachung halber hier nicht erwähnt werden.
Soviel über den Arbeitsgang am Band. Und an diesem Band sitzen auch hier Menschen? Was für Menschen? Qualifiziert? Interessiert? Viele ungelernte Kräfte fanden im Betrieb eine neue
Wirkungsstätte, ebenso Menschen aus völlig anderen Berufen, vom ehemaligen Tiefbauarbeiter bis zum einstigen Friseur.

Zwölf Jahre Aufbauarbeit liegen hinter dem Betrieb. Er entwickelte in diesem Zeitraum nicht nur eine hochwertige Produktion von Industriegütern, sondern auch - fast ausschließlich aus jenem "unqualifizierten" Mitarbeiterstamm - im Lauf der Zeit seine eigenen Facharbeiter, Meister, Ingenieure.
Allzuoft wird noch der Anteil unterschätzt, den die Freude an der Arbeit, die Lust und Liebe zur Sache am Gelingen haben. Geht man durch diesen Betrieb und plaudert mit den Kollegen, so erklären sich die bemerkenswerten

Tastensatz mit Chassis

Und  das  ist  das "Hirn" des Empfängers, das HF-Teil mit allem Drum und Dran. Wie beim Menschen befindet er sich auch im Empfänger oben. Darunter folgt dann Leiterplatte, Lautsprecher und Stromversorgung





Funktionskontrolle 1963


"Vorsicht ist gut, Kontrolle ist besser, messen aber ist am besten." Und gemessen wird um
fangreich bei der Herstellung. Ein "Baby" soll ja nach dem Willen der Eltern ideale Maße
haben und auch eine wohlklingende Stimme


Produktionserfolge dieses relativ kleinen Betriebes auch hier durch gute Leitungsmethoden und kollegiale Zusammenarbeit, mit echtem Interesse an der gemeinsamen Arbeit.

Dieses Interesse geht bis in die Freizeit:
Die meisten Goldpfeiler befassen sich auch nach Feierabend mit der Rundfunktechnik. Einige bauen Gegensprechanlagen, andere Rundfunkgeräte, Funkfernsteueranlagen für Modelle usw.
Wenn auch im Betrieb selbst kein Funkzirkel der GST besteht, so ist man doch in dieser Hinsicht im nahe gelegenen Limbach sehr aktiv.

Und wie geht es weiter? Ein detaillierter Plan liegt vor, zu Ehren des VI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei hochmoderne Geräte fertig zu entwickeln und in die Fertigung zu überführen; die Entwicklung ist bereits weit vorgeschritten. Zur Herbstmesse dieses Jahres wird ein neuer GroßSuper ausgestellt, dessen Daten eindrucksvoll sind. Man spricht von HF-Stereofonie und organisch eingebautem Nachhallgerät. . . Doch wir wollen nichts vorwegnehmen. Bis heute haben die Hartmannsdorfer immer gehalten, was sie versprachen. Wenn, ja wenn sie nicht von Zulieferbetrieben daran gehindert wurden.

Auch das muß gesagt werden. Abgesehen von ganzen Lieferungen Importtransistoren, die nicht hielten, was sie versprachen, ist die Qualität der Endstufentransistoren OC 821 schon beinahe skandalös. Der Rekord war 55 % Ausschuß. Auch heute, nachdem der Betrieb seine Forderungen an den Transistor zurückschraubte, ist der Ausschuß noch zu hoch. Die Transistorpärchen für die Endstufe müssen in Hartmannsdorf ausgemessen werden - warum macht man das nicht in Frankfurt/O. ? Wenn Widerstände mit Radial- anstatt, wie gefordert, mit Axialanschlüssen geliefert werden, und Tastenschalter zuweilen schlechten Kontakt geben, so ließe sich das notfalls noch in Kauf nehmen. Unverständlich bleibt aber, warum die An-

 

"Opal"- und "Baby"-Gehäuse


Und da ein "Baby" nicht nackt durch die Welt marschieren kann,  haben seine Eltern zwei  sympathische Kleidchen vorgesehen, im Vordergrund das Hauskleid "Opal" und im Hintergrund  das  Ausgehkleid Modell "Spatzbaby".

"Neutralisation"


Trotz aller Meßvorgänge hat das fast vollendete "Baby" noch kleine Bauchbeschwerden.
Da hilft kein Heizkissen und auch kein Rizinus. Der Fachmann, der das kennt, wendet
deshalb hier Trick Nr. 17 an und bezeichnet das als "Neutralisation"


schlußdrähte von Bauelementen nicht einwandfrei und vollständig verzinnt sind; sie werden in Hartmannsdorf nochmals lötfähig verzinnt, was natürlich Kosten verursacht. Unsere Bauelementeindustrie hat in bezug auf Qualität wirklich einiges aufzuholen.
Auch das einwandfreie Verzinnen gehört dazu.

Trotzdem erfüllte der VEB (K) Goldpfeil Rundfunkgerätewerk 1962 seinen Plan mit 100,3 Prozent, davon den Exportplan mit 125 Prozent (!). Und wenn das Spritzgußwerkzeug für das Spatzbaby-Gehäuse nicht kurz vor Jahresende zum dritten Mal defekt geworden wäre (übrigens keine Eigenfertigung des Betriebes, das Werkzeug) . . .

Der VEB (K) Goldpfeil gehört zu den fünf Schwerpunktbetrieben des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, denen in der Perspektive besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Hoffentlich bedeutet dies auch ein neues einheitliches Gebäude für den ganzen Betrieb; entgegen allen Versprechungen ist das Werk immer noch in mehreren Teilen über den Ort verstreut untergebracht. Auch neue Maschinen würden die Arbeit erleichtern. Man ist in Hartmannsdorf optimistisch. Und angesichts der bisherigen Erfolge hat man allen Grund dazu.

Ing. Streng

Das fertige Produkt

Und das ist nun das fertige Produkt. Schon im Aussehen, klangvoll in der Stimme, genügsam im Stromverbrauch  und  leistungsfähig. Nun kann Ede seine neuerworbene "Super-Transistor-Heule" seinem "steilen Eckzahn" vorführen

Fotos: Mihatsch jun.
Bildtext: Schubert sen.





entnommen aus : FUNKAMATEUR 2   1963



 

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