Rundfunkgemäße Musik (1931)
Rundfunkgemäße Musik (1931)

In der deutschen Zeitschrift "Die Sendung - Das Rundfunkwesen", Heft 31/VIII vom 1. August 1931, erschien auf Seiten 606 und 607 dieser Bericht:
Rundfunkgemäße Musik
Ergebnis eines Interviews mit Dr. Hermann Scherchen
Die Versuche, zu einer rundfunkgemäßen Musik zu kommen, die ohne weiteres nicht nur im Senderaum gespielt, sondern auch in jeder Beziehung einwandfrei empfangen werden kann, lassen den interessierten Rundfunkmusiker seit Bestehen des Rundfunkdienstes nicht mehr aus der Spannung herauskommen. Von der Technik ist vorderhand eine umwälzende Neuerung kaum zu erwarten. Die Spezialkompositionsaufträge der Sendegesellschaften konnten wohl einen Anreiz geben, haben auch tatsächlich das Problem übersichtlicher gestaltet, aber die Literatur, die diese Arbeiten umfaßt, ist im Verhältnis zur Nachfrage selbstverständlich dürftig und auch aus mancherlei Gründen nicht immer und zu aller Zeit gut verwertbar.
Es mußte also ein anderer Weg beschritten werden. Es galt, den ungeheuren Schatz der vorhandenen Musik sorgfältig in bezug auf seine Rundfunkeignung zu überprüfen, um auf diese Art und Weise zunächst einmal ein Reservoir für die musikalischen Sendungen zu schaffen. Solche Versuche und Arbeiten wurden von Hermann Scherchen, dem musikalischen Leiter der Orag, systematisch und in größerem Umfange betrieben: drei seiner Dirigierschüler übernahmen den Überwachungsdienst, die Kapellmeister der Orag wurden angewiesen, ihre Eindrücke im Senderaum — möglichst nach jedem Konzert —- schriftlich niederzulegen! — — Es ist interessant, wie sorgfältig Scherchen hierbei seine Beobachtungsposten verteilte. Es handelte sich darum, (in vier Monaten intensivster Arbeit) durch fortgesetzte Beobachtung statistisches Material zu gewinnen, das lückenlos darüber Auskunft gab, wie
- musikalische Aufführungen im Senderaum selbst,
- aus dem Lautsprecher, aber noch innerhalb des Sendehauses (im Zimmer der Techniker),
- am x-beliebigen Lautsprecher (im Privathaus) erklangen.
Es wurde also über eine längere Zeitstrecke hinaus über sämtliche musikalischen Sendungen ein dreifacher Bericht abgefaßt. Wichtig hierbei war, daß nach Möglichkeit die drei Berichtenden jedesmal den entscheidenden Proben im Senderaum beigewohnt hatten, also das Klangbild kannten, das bei den Aufführungen angestrebt wurde. Somit war für jeden Berichtenden sofort eine Vergleichsmöglichkeit gegeben, eine Bezugnahme auf die originale Sendung vor dem Mikrofon. Durch diese dreifache Kontrolle konnten also alle Veränderungen festgestellt werden, die das im Raum angestrebte Klangbild durch die technische Übermittlung erlitt.
Außer der technischen Vermittlung hält Scherchen aber noch zwei Faktoren für äußerst wichtig: Das Werk und seine funkische Eignung, sowie die Wiedergabe des Werkes und deren funkgerechte Art! — Scherchen behauptet, daß die künstlerisch beste Komposition in der künstlerisch besten Ausführung gebracht, in jedem Falle auch funkgeeignet sei und führt als Beispiel Gustav Mahler an, der vielleicht deshalb der großartigste und beste Instrumentator gewesen sei, weil seine Orchesterpartituren in bezug auf Deutlichkeit durch keine irgendwie gearteten Interpretationen mehr verfälscht werden können. — Das Kunstwerk muß also bei seiner Interpretation (im Senderaum) in jeder melodischen Wendung, harmonischen Begründung, rhythmischen Gliederung eindeutig erkennbar sein. Dieser Begriff der eindeutigen Erkennbarkeit als höchster Norm erstreckt sich selbstverständlich auch auf die Kompositionsweise. Als Beispiele, die aus diesen Erkenntnissen gewonnen wurden, führt Scherchen an: Ein schlechter Kontrapunkt, der lediglich als Füllsel dient, ist rundfunkungeeignet, weil er nicht als musikalische Gestalt wahrgenommen wird. — Ebenso sogenannte dick klingende Musik, die harmonisch konzipiert und mit pseudo-melodischen Verkleidungen der Akkordintervalle versehen ist: Hier wird die Höraufnahme durch Unwichtiges abgelenkt! — Gleichfalls ungeeignet ist Musik, die auf extremen, klanglichen Gegensätzen beruht. Z. B. expressionistische Kompositionen mit ihrer Bevorzugung der gegensätzlichen höchsten und tiefsten Klanglagen, ohne einen verbindenden mittleren Körper der Musik: Die Erregungsausbrüche verwandeln sich hier in gehörsmäßige Überreizungen! — Auch Kompositionen, die in rhythmischer Beziehung nicht mit ursprünglichem Gefühl geschrieben sind, rufen beim Hörer nach der Mikrofon-Übermittlung besonders leicht Mißverständnisse hervor! —
Was die Interpretation angeht, so betont Scherchen, daß das Werk vor dem Mikrofon als eine rein klangliche, nur gehörte Kundgebung in jeder Hinsicht eindeutig erkennbar sein muß! Dahin gehört, daß gehaltene Akkorde die kontrapunktischen und melodischen Bewegungen nie undeutlich machen dürfen. — Baßfiguren müssen als Tonfolgen leicht erkennbar sein, dürfen aber niemals zu erregenden, schnellen Geräuschen werden! — Der ganze Klangraum der Musik muß da sein: Melodie, Mittel- und Füllstimmen (Harmonie), Baßtöne! — Die Melodiephrasierungen und der sie begleitende harmonische Verlauf müssen sorgfältig im Beginn und Ende gekennzeichnet sein. Dies ist um so wichtiger, als die darstellenden, ausdrückenden Gesten, die im Konzertsaal sichtbar sind, wegfallen! —
Die statistischen Materialsammlungen über rundfunkgemäße Musik sollen dazu dienen, die Sendungen einer nachprüfbaren Beobachtung zu unterziehen. Scherchen hofft, daß hierdurch Rückwirkungen möglich werden auf die Zusammenarbeit von Kunst und Technik, die das Wesenseigentümliche des Rundfunks ist!
Das ganze Material der Königsberger Arbeit, das absichtlich noch nicht ausgewertet worden ist und das das Resultat einer freundschaftlichen Zusammenarbeit mit den Technikern der Orag darstellt, will Scherchen später systematisch nutzbar machen im Zusammenhang mit den Untersuchungen, die die Reichsrundfunkgesellschaft ihm und Oberingenieur Schäffer für den kommenden Winter in Berlin übertragen hat.
Ferd. H. Wolff
Falls jemand Informationen über die "spätere Auswertung" hat bitte ich höflichst um Mitteilung - danke.
GR
Für diesen Post bedanken, weil hilfreich und/oder fachlich fundiert.