Pfusch, Brachialgewalt, wunderliche Reparaturtechnik - L2W54

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Pfusch, Brachialgewalt, wunderliche Reparaturtechnik - L2W54 
16.Jan.23 10:57
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Bruce Cohen (NL)
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Bruce Cohen

Das gibt man ja eigentlich nicht gern zu: dass man Gewalt gebraucht bei der Radioreparatur.

Wer kennt die filigranen gedruckten Schaltungen von Philips nach 1965? Schon das Anschauen bringt einem zum Zittern. Sie ausbauen, sie in die Finger nehmen, das will man lieber nicht.

Bei diesem äusserlich wirklich bezaubernd schönen Gerät will kein Ton aus dem Lautsprecher kommen. Nach ein paar Mal Schalten dringt schwach Geräusch ans Ohr. – Es ist doch Leben drin. Die Wellenbereiche kommen und verschwinden nach Belieben, also werden die Wellenschalter gesprüht. Das hilft erst einmal. Die Lautstärke aber, sie bleibt, wie sie ist: wirklich fast unhörbar. Im Verstärker verstecken sich kleine Elektrolyten, kleiner als 1uF. Ihnen traue ich gar nicht, aber die Platine ausbauen, das will ich nicht. Nach einigen Prüfungen zeigt sich, dass der Fehler im markierten Bereich um T6 liegen muss:

Ich bringe erst eine Überbrückung an, mittels eines Kondensators. Transistor T6 ist jetzt umgangen und kaltgestellt… kaltgestellt, und das Gerät wird um einiges lauter… Normalerweise würde man T6 messen, hier aber ist nichts zu messen. Die Anschlüsse sind vielleicht 2, 3 Millimeter lang – nicht einmal zu sehen von oben! – und mit meinem Pfusch läuft das Radio doch auch?

Lässt es mich in Ruhe? – Natürlich nicht. Also öffnet der Radioreparateur das Radio am nächsten Tag erneut. Jetzt greift er zur Gewalt. Er wird den Transistor abzwicken! Koste es, was es wolle. Von oben auf der Platine wird er einen Ersatz – hier den AC151 aus dem Fundus – wird er also einen Ersatz einlöten. Brachialgewalt! denn der alte Transistor will  nicht weichen. Er will nicht, wie der Reparateur will: drei saubere, kleine Endstücke will der. – Was hat der Reparateur am Schluss vor sich? Zwei kleine Stümpflein, noch keinen Millimeter lang, und ein… und ein Loch. Da gehört der C-Anschluss festgelötet, was nun?

Der geneigte Bastler zwickt und zwackt, biegt und dreht, verzinnt drei Enden, steckt den C-Anschluss ins Loch, betet, lötet Emitter und Basis fest, erhitzt mit etwas Lot den Collector-Draht im Loch… und hofft.

Er hofft inbrünstig. – Doch hofft er zurecht? – Man sucht die Kabel des Labornetzgerätes, legt sie an, und… und ein höllischer Krach erfolgt. Schnell die Lautstärke zurückgedreht, damit nicht in letzter Sekunde alles zerstört wird. Das Radio läuft, das ist jetzt überdeutlich.

Filigran ist die Platine auf der Seite der Leiterbahnen. Filigran sind meine Lötungen von oben. So ein kleines Radio fällt bei mir manchmal so ein bisschen um. Also müssen die Lötungen mit ein paar Tropfen Zweikomponentenleim stabilisiert werden.

Darf ich die Geschichte von Pfusch, Brachialgewalt und wunderlicher Reparaturtechnik in diesem hehren Forum denn überhaupt erwähnen? – Eigentlich nicht. Nur derjenige, der diese Platinen von Philips kennt, kann ermessen, wie weit einer geht, um der Aufgabe, die sich eigentlich stellen würde, auszuweichen.

Das Radio spielt also jetzt wieder. UKW läuft, die Langewelle, die Mittelwelle, die Kurzwelle, alle, alle spielen sie. Grosse Freude herrscht im Haus: alles dank Pfusch, Brachialgewalt und wirklich wunderlicher Reparaturtechnik.

Heute früh hat das Radio Batterien bekommen, es spielt ganz fröhlich vor sich hin. ‚If I only had time‘ aus den Sechziger Jahren, danach ‚The young ones‘, alles recht gut zum Alter des Radios passend.

Welcher verrückte Spruch vom Schulhof kommt mir da zum Schluss in den Sinn? – Aussen fix, innen Philips!

Für diesen Post bedanken, weil hilfreich und/oder fachlich fundiert.